top of page

Ist Mystik böse?



Ich habe eine lange Reise des Glaubens hinter mir und hoffentlich werden noch etliche Kilometer dazukommen.


Begonnen hat sie in der katholischen Kirche. Dort spürte ich als Kind das große Geheimnis des Glaubens, fand aber leider keinen Zugang dazu. Der Altarraum schreckte mich, denn immer wieder fiel mein Blick auf den Heiligen Sebastian, in dessen zahlreichen Wunden die Pfeile der römischen Bogenschützen stecken, die ihn aufgrund seines christlichen Glaubens erschossen haben.


Nach meiner Erstkommunion trat für Jahre eine Glaubensstille ein. Erst als junger Mann bewegte sich wieder etwas - allerdings in eine ganz anderen, als der christlichen Richtung. Auf dem damals eingeschlagenen Weg verirrte ich mich völlig und fand mich in völliger Dunkelheit wieder, aus der heraus es keinen Weg zu geben schien.


Ausgerechnet dorthin aber trauten sich junge Christen, für die ihr Glaube keine Privatsache war und die verstanden hatten, dass Christen immer auch Gesandte an Christi Stelle sind. So ließ ich mich auf den Glauben ein und wurde Teil einer Pfingstgemeinde, wo ich lernte, eine erlösende und heilende Beziehung mit Gott aufzubauen.


Als ich begann, mich mit der Kirchengeschichte zu befassen, entdeckte ich bald, dass es längst vor Beginn der Pfingstbewegung Christen gab, die von denselben Kraftwirkungen und Offenbarungen berichteten, die für die Pfingstbewegung so typisch sind. Für mich begannen sich die Jahrtausende, die zwischen meinem damaligen christlichen Umfeld und der ersten Gemeinde vergangen waren, mit Glaubenszeugnissen zu füllen, die mich bis heute tief inspirieren und prägen.


Die Beschäftigung mit den Niederschriften der Vorväter, beginnend bei den ersten nachapostolischen Dokumenten, über die Schriften der Wüstenväter, der frühen Kirchenväter, der Glaubensvorbilder des Mittelalters, der Zeugnisse der Reformation und von Betern und Mystikern wie Teresa von Avila, Johannes vom Kreuz, Graf Zinzendorf, Gerhard Tersteegen und vielen anderen, eröffneten mir eine Glaubenswelt, die weit über das hinausging, was ich damals kannte. Welche Schätze es zu heben gab!


Als ich damit begann, mich intensiver mit den Schriften der großen christlichen Mystiker zu befassen, reagierte ich oft fasziniert, manchmal aber auch ziemlich überfordert. Einige Male konnte ich die Erfahrungen, die sie beschrieben und die theologischen Schlüsse, die sie zogen, im Licht der Worte der Bibel nicht nachvollziehen und deshalb auch nicht annehmen.

Einige der Mystiker haben sich vom Boden des Evangeliums gelöst und schweben in einer Art Wissens- und Erfahrungswolke, die aus meiner Sicht nicht der Herrlichkeit Gottes entspricht. Eher gleicht sie einer diffusen religiösen Vermischung von persönlichen Gefühlen, Interpretationen und einer vermeintlichen Gotteserkenntnis, die letztlich zu einem Gottesbild führt, das nicht mehr dem Vater von Jesus Christus entspricht.


Die Gefahr, über gesunde Grenzen hinauszugehen, ist aber nicht typischerweise etwas, das man vor allem mit der Mystik verbinden könnte. Sie besteht in allen christlichen Konfessionen, Denominationen, Bündnissen und Netzwerken. Deshalb wehre ich mich dagegen, wenn ausgerechnet die Mystik unter den Generalverdacht der Irrlehre gestellt wird - was ein „Kind mit dem Bade ausschütten-Vorgehen“ ist.


Was aber ist christliche Mystik eigentlich?

In wenigen Worten ausgedrückt beschreibt sie Wege zur unmittelbaren Erfahrung der Gegenwart Gottes. Sie betont, dass durch Gebet, Meditation und Kontemplation eine persönliche, transzendente Verbindung zu Gott möglich ist – eine Erfahrung also, die über das rein rationale Glaubensverständnis hinausgeht.


Wenn wir diese (sehr knappe) Beschreibung der christlichen Mystik als Grundlage zur generellen Beurteilung heranziehen wird deutlich: Daran gibt es nichts, wovon uns die Bibel - als Referenz zur Prüfung aller geistlichen Aussagen und Erfahrungen - nicht auch berichten würde.


Weil beispielsweise Paulus in 2.Kor.3,18 die Kontemplation als einen Ort der Transformation des Gläubigen in das Bild Jesu beschreibt und das kontemplative (= betrachtende) Gebet schon bei David (Psalm 27,4) eine große Rolle spielte, gehört es seit vielen Jahren auch zu meinen täglichen Gebetszeiten. Wichtig diesbezüglich zu sagen ist, das es bei der christlichen Kontemplation nicht um den Blick ins Nichts oder ins eigene Innere geht, sondern um den Blick auf Jesus.


Der katholische Theologe Karl Rahner machte eine Aussage über die Mystik, die ich als geradezu prophetisch für unsere Zeit heute ansehe:


„Der Fromme von morgen wird ein ‚Mystiker‘ sein, einer, der etwas ‚erfahren‘ hat, oder er wird nicht mehr sein.“

Quelle: Karl Rahner, „Frömmigkeit heute und morgen“, erschienen in der Zeitschrift Geist und Leben(1966).


Rahner wollte damit ausdrücken, dass das christliche Leben in der Zukunft eine lebendige, unmittelbare Erfahrung der Gegenwart Gottes – eben eine mystische Dimension – beinhalten muss, um seine authentische Identität zu bewahren. Ein rein intellektueller oder moralistischer Glaube ohne diese mystische Erfahrung könne nicht mehr als Christentum gelten.


Er hatte recht. Der christliche Glaube ist kein Denkkonstrukt und die Bibel kein dröges Regelwerk. Sie ist die Geschichte der größten Liebe aller Zeiten, die sich in der Beziehung und Begegnung zwischen Gott und Mensch ausdrückt. Liebe ohne Nähe, ohne Gespräch und Emotionen wäre keine.


Christliche Mystik ist nicht „böse“. Sie ist auch keine Irrlehre, WENN sie sich im guten Rahmen der Worte der Heiligen Schrift abspielt. Dort sollte sie sogar mehr als nur einen winzigen Platz haben und gerade so geduldet werden. Vielmehr sollte die Kirche von heute ihr Raum geben, um beispielsweise das zu ermöglichen, was wiederum der Apostel Paulus in Eph.3, 17-19 von Gott erbittet:


„…daß der Christus durch den Glauben in euren Herzen wohne und ihr in Liebe gewurzelt und gegründet seid, damit ihr imstande seid, mit allen Heiligen völlig zu erfassen, was die Breite und Länge und Höhe und Tiefe ist, und zu erkennen die die Erkenntnis übersteigende Liebe des Christus, damit ihr erfüllt werdet zur ganzen Fülle Gottes.“


Vielleicht sollten wir das „Gruselwort“ ‚Mystik‘, das oft mit negativen Assoziationen behaftet ist, von seinem Stigma befreien.

Ja, man muss erklären können, was „christliche Mystik“ ist und klare Grenzen gegenüber des Mystizismus anderer Religionen ziehen. Aber man sollte Christen nicht ausreden, persönliche Gottesbegegnungen erleben zu dürfen. Denn diese brauchen wir alle.


Alles Liebe. Rainer

 
 
 

Comentários


bottom of page