Die Neudeutung des Kreuzes
- Rainer Harter
- 28. Apr.
- 6 Min. Lesezeit

Neulich unterhielt ich mit einer Bekannten, die sich zur progressiven Theologie hingezogen fühlt. Das ist eine Strömung, die sich durch gesellschaftliche Offenheit und eine neue Deutung tradierter Glaubensvorstellungen auszeichnet. Insbesondere ging es bei unserem Gespräch um die paulinische Kreuzestheologie.
Ihre neue, von der oben erwähnten Strömung beeinflussten Sicht auf das Kreuz, lässt sich in der folgendermaßen zusammenfassen:
Der Kreuzestod Jesu wird weniger als „Sühneopfer“ für Sünden verstanden, sondern eher als:
• Zeichen von Gottes Mitgefühl mit dem menschlichen Leiden.
• Weg der Heilung für verletzte Menschen.
• Vorbild für radikale Liebe und Selbsthingabe.
Wenn von Sünde die Rede ist, wird dies seitens der Vertreter der progressiven Richtung oft psychologisch oder sozial interpretiert, also nicht primär als Bruch mit Gott, sondern als innere Verletzung, Entfremdung oder gesellschaftliche Ungerechtigkeit.
Man könnte sagen, dass dies doch eine schöne Sicht sei. Aber: Dahinter steckt mehr als einfach eine erweiterte Sicht auf das Geschehen am Kreuz:
Die Aussage, dass Jesus „nicht primär wegen unserer Sünden, sondern zur Heilung innerer und äußerer Wunden“ gestorben sei, verschiebt den Fokus der Kreuzestat weg von der grundsätzlichen Sündhaftigkeit aller Menschen hin auf ihre Gebrochenheit.
Das Problem ist, dass weder das AT noch das NT diese Sichtweise stützen. Sie ist eine rein menschliche Verschiebung. Die Bibel spricht unmissverständlich davon, dass Jesus unsere Schuld getragen hat (z. B. Jes 53,5; 1 Petr 2,24; 2 Kor 5,21). Heilung ist eine Frucht seines Leidens und nicht dessen vorrangiger Zweck.
Das Kreuz ist vor allem der Ort der sühnenden Gerechtigkeit Gottes (Röm 3,25–26) – auch wenn dies für manche progressiven Theologen bereits als falsche Interpretation biblischer Sachverhalte gilt. Das Kreuz ist der Ort, an dem Gott Schuld jedoch nicht einfach übersieht, sondern sie in Christus richtet und so dem Schuldigen vergeben kann, OHNE seine Gerechtigkeit aufzugeben.
Unsere Diskussion neulich ergab sich aus der Frage, ob Gott bußfertigen Tätern sozusagen von jetzt auf gleich vergibt, während deren Opfer möglicherweise ihr gesamtes Leben mit dem Trauma leben müssen, das ihnen zugefügt wurde. Weil dies nicht gerecht sei, müsse es anders gehen, meinte meine Gesprächspartnerin.
Richtig ist sicher, dass wir Christen mit Begeisterung reagieren, wenn etwa ein Mörder, Zuhälter oder Betrüger zum Glauben kommt – oft jedoch ohne zu bedenken, welche Spur der Verwüstung er bei seinen Opfern hinterlässt.
Was meine Bekannte allerdings übersehen hat, sind (zumindest) folgende Punkte:
Den Auftrag der Wiedergutmachung an die Adresse des Täters.
Den Auftrag der Vergebung an das Opfer.
Die Herausforderung der Metanoia an beide, also sowohl das Erkennen der eigenen Schuld als auch das Vertrauen auf Gottes Barmherzigkeit.
Ja, es stimmt: Gottes Vergebung ist aus menschlicher Sicht skandalös und widerspricht dem menschlichen Gerechtigkeitsdenken. Ein Beispiel dafür ist der Schächer am Kreuz. Er selbst sagte zu dem zweiten gekreuzigten Verbrecher folgendes:
„Wir empfangen, was unsere Taten wert sind; dieser aber hat nichts Unrechtes getan.“ (Lk 23,41)
Zur Zeit Jesu wurde man nicht einfach wegen einer kleinen Straftat gekreuzigt.
Die Kreuzesstrafe wurde über Aufrührer, Hochverräter, gewalttätige Räuber und Wegelagerer verhängt. Daraus, und aus des Schächers Worten lässt sich also herauslesen, dass wohl auch er mit ziemlicher Sicherheit an Menschen schuldig geworden ist. Und dennoch wurde ihm völlig vergeben.
Aber die Frage bleibt bestehen: Was ist mit den Opfern, die zwar Christen wurden und ebenso wie ihre Täter Vergebung empfangen haben, im Unterschied zu ihnen aber Narben tragen, die immer wieder schmerzen können? Wo bleibt da die Gerechtigkeit?
Zunächst muss man festhalten, dass Gottes Gerechtigkeit eben nicht mit menschlichen Maßstäben gemessen oder unserem Gerechtigkeitsverständnis gleichgesetzt werden kann. Wäre es so, gäbe es keine Gerechtigkeit aus Glauben vor Gott, sondern eine, die wir uns – je nach Schwere unserer Sünden – verdienen müssten.
Nun sagt Jesus aber ausdrücklich, dass er für die Schwachen und Kranken gekommen ist. Deshalb muss die gute Botschaft tatsächlich auch wirklich für solche Menschen gut sein. Aber wie?
Ein theologisch fundierter Blick auf diese Problematik muss die Spannung zwischen der radikalen Gnade Gottes für den Täter und der Sehnsucht nach Gerechtigkeit und Heilung für das Opfer ernst nehmen und zugleich beides aus derselben Perspektive des Kreuzes betrachten. Sowohl das eine wie auch das andere ist untrennbar mit dem Kreuzesgeschehen verbunden:
• Gottes Gnade reuigen Tätern gegenüber ist keine „billige“ Gnade, sondern eine sehr teure: Die Vergebung des Täters ist nur möglich, weil Christus am Kreuz den Preis für seine Erlösung bezahlt hat. Die Schuld des Täters wurde gesühnt. Er kommt allein wegen Christi Leiden „davon“.
• Gleichzeitig ist das Kreuz der Ort, an dem der Schmerz des Opfers ernst genommen und sogar durchlebt wird. Das Lamm Gottes trägt nicht nur die Sünde der Welt, sondern auch ihre Wunden. Der gekreuzigte Jesus nimmt jede Verletzung der Opfer auf sich: Ihr Schmerz und ihre Narben sind ihm nicht egal, sondern Teil seines Leidens (2 Kor 1,3–4).
• Die Auferstehung Jesu wiederum zeigt, dass Gott den Opfern nicht nur Recht verschafft, indem sie in ihm ewiges Leben finden, sondern sie schon hier auf der Erde aufrichtet, tröstet und eines Tages völlig heil macht.
Dann werden alle zerbrochenen Lebensbereiche wiederhergestellt (Offb 21,4).
• Die bleibenden Wundmale des Auferstandenen bezeugen, dass Gnade für reuige Täter die Geschichte nicht auslöscht, sondern verwandelt (!).
Wir leben also im Spannungsfeld des Glaubens an einen Gott, der Täter zur Umkehr ruft und zugleich nie einen Moment das Leid der Opfer vergisst, auch wenn Narben bestehen bleiben.
An dieser Stelle kommt die Gemeinde ins Spiel: Wie geht sie konkret mit Opfern um? Welche Hilfsangebote macht sie? Nehmen wir uns Zeit, den Schmerz traumatisierter Geschwister zu teilen, mit ihnen zu weinen und sie zu unterstützen? Und: Leiten wir Täter an, ihre Schuld nicht nur Gott zu bekennen, sondern ihren Opfern - wenn möglich - zu dienen? Das alles scheint mir zu selten zu geschehen, was aber nicht in Gottes, sondern unserer Verantwortung liegt (Röm 12,15; Mt 5,23–24; Jak 5,16; 1 Kor 12,24–26).
Damit komme ich zur letzten Aussage: Eines der Dinge, die mich an der progressiven Theologie stören, ist der altbekannte, nun aber im Mantel des sich entwickelnden Wissensstandes des Menschen daherkommende Versuch, Gott denk- und verstehbar zu machen. Das beinhaltet letztlich auch (obwohl es niemand ausspricht), dass Gott seine Souveränität abgesprochen wird. Weil er - so wie er in der Bibel beschrieben wird - nicht in das menschliche Denkraster passt, soll die Heilige Schrift neu interpretiert werden, weil man heute ja schließlich mehr weiß als zu den Zeiten, zu denen ihre Bücher entstanden sind. Damit wird die Bibel als grundlegende Quelle der Gottesoffenbarung der Erfahrung und der (Er-)kenntnis des Menschen angepasst.
Der Versuch einer solchen „Vermenschlichung“ Gottes und die Umdeutung der biblischen Worte sind jedoch zum Scheitern verurteilt. Aus meiner Sicht führen sie nicht zu mehr Gelassenheit, Freiheit und Gerechtigkeit im christlichen Glauben, sondern erstens zu einem illusionären Glaubens- und Gottesbild, das immer weniger mit der biblischen Offenbarung übereinstimmt, und zweitens zur Ausgrenzung Andersdenkender und konservativ-gläubiger Christen. Das Ergebnis dieser „Neuschaffung Gottes“ ist nicht mehr als ein menschengemachter Gott, der in Wahrheit nur ein wandelbares Gedankenkonstrukt ist – verziert mit historischen Fakten und viel Gefühl.
Abschließend möchte ich nochmals die Bibel zu Wort kommen lassen – auch wenn sie in manchen Kreisen heute mehr als ein „Buch voller Anhaltspunkte und veralteter Gottesbilder“ denn als Wort Gottes angesehen wird. Sie sagt zur Frage, ob wir Menschen Gott denken oder denkend verstehen können, folgendes:
• Psalm 139,6: „Die Erkenntnis von dir ist mir zu wunderbar, zu hoch, als dass ich sie begreifen könnte.“
• Hiob 36,26: „Siehe, Gott ist erhaben, und wir erkennen ihn nicht, die Zahl seiner Jahre ist nicht zu erforschen.“
• Römer 11,33–36: „O Tiefe des Reichtums … Wie unerforschlich sind seine Gerichte und unergründlich seine Wege! […]‘Denn wer hat des Herrn Sinn erkannt?‘“
• Jesaja 40,28: „Weißt du nicht? Hast du nicht gehört? Der HERR, der ewigliche Gott … wird nicht müde, und seine Einsicht ist nicht zu erforschen.“
• Jesaja 55,8–9: „Denn meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege nicht meine Wege, spricht der HERR.
Gott Gott sein zu lassen und uns einzugestehen, dass er ein Mysterium bleibt und anders ist als wir (vollkommen = heilig) fällt einer Gesellschaft logischerweise schwer, die das Wissen über alles stellt.
Dass diese Position ziemlich wackelig ist, zeigt sich fast täglich in der Wissenschaft, deren Erkenntnisse immer wieder neu lauten: „Bisher dachten wir …, aber jetzt haben wir entdeckt, dass es anders ist …“ Die Wissenschaft überhebt sich nicht – es sind die Menschen, die sich überheben, wenn sie Gott gemäß ihrer Gedanken neu interpretieren.
Alles Liebe. Rainer
コメント