Was sehen die Menschen, wenn sie uns sehen?
- Rainer Harter
- 20. Dez. 2024
- 4 Min. Lesezeit

Wir werden beobachtet.
Das schreibe ich nicht als Ausdruck eines latenten Verfolgungswahns, sondern mit Dankbarkeit.
Mir hilft das Gespräch mit Menschen, die keine Christen sind, immer wieder sehr. Nur wenn ich mir ihre Gedanken anhöre und versuche zu verstehen, warum sie denken, wie sie denken, kann ich auch darauf reagieren und gegebenenfalls daraus lernen.
Viele Menschen begegnen mir mit Respekt und Freundlichkeit. Sie wissen, wie wichtig mir der christliche Glaube ist, und verzichten darauf, Kritik daran zu äußern, weil sie mich nicht verletzen möchten.
Manchmal aber, beispielsweise auf meine Nachfrage hin, aus emotionaler Erregung oder ohne, dass sie sich etwas dabei denken, erfahre ich auch etwas über ihre Ablehnung gegenüber Christen. Kurz zusammengefasst, geht es bei ihren negativen Beispielen meistens um das Thema der Heuchelei. Sie werfen uns Christen vor, hohe Ansprüche zu verkündigen, die wir selbst gar nicht zu erfüllen suchen. Sie erzählen von Missbrauchsvorfällen, von Betrug, Streit, Hass und von Doppelzüngigkeit. Alle diese Dinge sind nicht von der Hand zu weisen.
Erst kürzlich habe ich ein weiteres Beispiel für die Diskrepanz zwischen den Lehren Jesu und dem Leben seiner Nachfolger gehört. Vor einigen Tagen habe ich nämlich einen jungen Mann aus Gambia kennengelernt. Ich nenne meinen neuen Freund an dieser Stelle Demba.
Gleich bei unserem ersten Kontakt fiel mir auf, dass ich einen gebildeten, freundlichen und lebensfrohen jungen Mann vor mir hatte. Wir trafen uns an einer Reihe von Tagen und sprachen über viele verschiedene Dinge, auch über unseren Glauben. Demba ist praktizierender Muslim. Eines Abends sprachen wir unter anderem darüber, wie christliche Leiter in unseren so unterschiedlichen Ländern von der Bevölkerung wahrgenommen werden. Das war der Moment, in dem Demba mir bestimmte Gedanken offenbarte, wissend, dass ich selbst ein Leiter bin.
Zunächst ging es in unserem Gespräch um die Verwendung von Titeln für Leiter, hinsichtlich der es schon allein in den europäischen Ländern große Unterschiede gibt. Beispielsweise werde ich in Italien immer als „Pastore“ angesprochen, obwohl ich keiner bin. Eine Erklärung hilft da wenig; es ist ein Ausdruck von Wertschätzung und Anerkennung mir gegenüber.
In Afrika scheinen Titel unter geistlichen Leitern besonders beliebt zu sein. Vielleicht täusche ich mich, aber dort scheint man bei entsprechendem Erfolg recht schnell zu einem Apostel, Propheten oder Bischof befördert zu werden - von wem oder mit welcher Vollmacht, ist mir nicht klar.
Demba erzählte mir von einer Beobachtung, die er in Gambia bezüglich christlicher Leiter gemacht hat: Egal, welchen Titel sie tragen, eines hätten sie alle gemeinsam: Sie würden nach Wohlstand streben. Er berichtete davon, wie die vielfach armen Gemeindeglieder das luxuriöse Leben ihres Pastors finanzieren, selbst aber nicht aus ihrer Armut herausfinden würden.
Auch wenn das die Sicht eines einzelnen Menschen ist und man immer auch die jeweils vorliegende Kultur und die vorherrschende christliche Ausprägung berücksichtigen muss, haben mich Dembas Worte betrübt. Wenn es wahr ist, was er beschrieb, und es sich nicht nur um einzelne Fälle, sondern um das durchschnittliche Verhalten von führenden Christen handelt - natürlich wird es Ausnahmen geben - wie sollen Menschen wie er dann die Schönheit und Wahrheit des christlichen Glaubens erkennen können? Demba nimmt dessen Repräsentanten als Heuchler wahr, die im Vergleich mit denjenigen aus seiner Glaubenstradition ganz schlecht aussehen.
Dembas Worte haben mich zum Nachdenken gebracht. Was bedeutet es mir, „ein Leiter“ zu sein? Schlachte ich etwa meine Leitungsposition in irgendeiner Form aus? Wie gehe ich mit Titeln, Ehrungen und mit Menschen um, die meinen Worten folgen und mir damit Einfluss auf ihr Leben geben? Bin ich noch ein Diener, oder erwarte ich aufgrund meiner Stellung, bedient zu werden?
Seit einiger Zeit beschäftige ich mich mit Psalm 139, insbesondere mit den Versen 23 und 24. Das tue ich, weil ich nicht von unguten Motivationen getrieben werden möchte. Lieber möchte ich, dass Gott mir die ungeschönte Wahrheit zeigt - auch, wenn sie schmerzhaft sein kann. Ich brauche seine Sicht, denn ich kenne mich und das „Volk“ der Menschen zu gut, um ausschließen zu können, dass es „einen Weg der Mühsal“ bei mir gibt:
„Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz. Prüfe mich und erkenne meine Gedanken! Und sieh, ob ein Weg der Mühsal bei mir ist, und leite mich auf dem ewigen Weg!“
Ich glaube, wir alle sind anfällig, wenn es um Ehre geht. Das scheint mir noch nicht desaströs zu sein, sondern ist menschlich. Traurig wird es, wenn wir der Ehre nachjagen, ihr dienen oder sie uns einfach nehmen. Und ganz schlimm wird es dann, wenn wir meinen, neben der Ehre der Menschen stünde uns auch noch ihre Zeit, ihre Kraft und ihr Geld zu, das wir dann verwenden, um uns selbst zu ehren.
Wie anders die Haltung des größten Leiters aller Zeiten:
„Denn … der Sohn des Menschen ist nicht gekommen, um bedient zu werden, sondern um zu dienen…“
Egal, ob du dich als Leiter siehst oder nicht: Ich wünsche dir, dass du den Mut findest, ebenfalls die Worte aus Psalm 139 zu beten, damit wir gemeinsam für Menschen wie Demba lebendige Hinweise auf unseren Herrn sind – dem wahrhaft Ehre gebührt.
Kyrie Eleison.
Rainer
Comments